Vor einem weiteren Prozess rund um die massiven Ausschreitungen und rassistischen Angriffe 2018 in Chemnitz haben Opfervertreter die sächsische Justiz scharf kritisiert. Sie habe Betroffene rechter Gewalt wiederholt im Stich gelassen, erklärte die Nebenklagevertreterin Kati Lang am Donnerstag. Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) sprach von einer «katastrophalen juristischen Aufarbeitung». Dies entmutige die Angegriffenen und stärke militante Neonazi-Netzwerke.
Am Montag - und damit mehr als fünf Jahre nach dem Angriff - soll am Landgericht Chemnitz ein Prozess gegen sieben Angeklagte im Alter von 26 bis 51 Jahren beginnen. Ihnen wird vorgeworfen, nach einem sogenannten Trauermarsch von AfD, Pegida und Pro Chemnitz am 1. September 2018 Teilnehmer einer Gegendemonstration angegriffen zu haben. Es ist das erste von insgesamt drei Verfahren zu den Krawallen an jenem Tag. Insgesamt sind nach Justizangaben 29 Beteiligte ermittelt worden. Damals waren elf Menschen verletzt worden.
«Schulterschluss der extremen Rechten»
In Chemnitz habe es 2018 einen Schulterschluss der extremen Rechte gegeben. Zugleich sei es der Startschuss für eine neue Generation von Rechtsterroristen gewesen, betonte Heike Kleffner vom VBRG. Dabei zog sie eine Linie zum späteren Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Bei den nun vor Gericht Angeklagten handle es sich in großen Teilen um organisierte Neonazis, erklärte André Löscher, der für den Verein RAA Sachsen seit vielen Jahren in Chemnitz Betroffene rechter Gewalt berät. Sie seien kampfsportgeschult, um politische Gegner einzuschüchtern, anzugreifen und zu verletzen.
Am Rande des Chemnitzer Stadtfestes war am 26. August 2018 ein Deutscher im Streit mit Asylbewerbern erstochen worden. Ein Syrer wurde später wegen Totschlags verurteilt, ein weiterer Beteiligter ist auf der Flucht. Die Tat löste massive Proteste aus, bei denen Neonazis und Fußball-Hooligans Seite an Seite mit zuvor unauffälligen Bürgern demonstrierten. Es gab rassistische Angriffe und einen Anschlag auf ein jüdisches Restaurant; von Hetzjagden war die Rede. Außerdem gründete sich eine rechtsextreme Terrorgruppe.
Mehr als 240 Ermittlungsverfahren
Die Ausschreitungen zogen nach früheren Angaben insgesamt mehr als 240 Ermittlungsverfahren nach sich. Dabei wurden 235 Tatverdächtige ermittelt. Es ging um Volksverhetzung, Beleidigung, Widerstand und Angriff auf Polizisten, Sachbeschädigung, Körperverletzung, Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Ursprünglich sollte am Montag gegen zwei weitere Angeklagte verhandelt werden. Bei einem Bulgaren konnte laut Gericht die Ladung nicht zugestellt werden, so dass das Verfahren abgetrennt wurde. Bei einem anderen Mann wurde das Verfahren eingestellt, weil «die zu erwartende Strafe angesichts der in einem anderen Verfahren verhängten Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht fiele», erklärte eine Gerichtssprecherin. Bei dem Prozess gibt es verschärfte Einlasskontrollen. Es sind elf Termine bis Ende Januar geplant.
Dass das Verfahren erst jetzt stattfindet, hat das Gericht unter anderem mit Einschränkungen durch die Corona-Pandemie begründet. Rechtsanwältin Lang räumte ein, dass es sich um ein sehr umfangreiches Verfahren handle. Aus ihrer Sicht hätte das Ganze aber auch mit Blick auf die bundesweite Tragweite engagierter vorangetrieben werden müssen. «Das Landgericht Chemnitz schreibt bisher kein Ruhmesblatt für die Aufklärung rechter Gewalttaten», konstatierte sie. «Für die Betroffenen ist das extrem frustrierend.»
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