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«Wir waren so viele»: Massen-Demonstration vor 30 Jahren

Michael Masur steht am Alexanderplatz vor der Weltzeituhr und dem Berliner Fernsehturm. Foto: Christoph Soeder/dpa
Michael Masur steht am Alexanderplatz vor der Weltzeituhr und dem Berliner Fernsehturm. Foto: Christoph Soeder/dpa

Seine Frau blieb an dem Samstag mit den zwei Kindern zu Hause. «Man wusste ja nicht, wie sich das entwickelt und ob der Apparat klein beigibt», sagt Michael Masur. Der älteste Sohn des international bekannten Dirigenten Kurt Masur (gestorben 2015) fuhr an jenem 4. November 1989 zum Alexanderplatz in Ost-Berlin, wie Hunderttausende andere auch. Schätzungen sprechen von fast bis zu einer Million Teilnehmern - es ist die größte Demonstration in der DDR-Geschichte.

«Wir waren so viele», sagt der 69-Jährige zu dem historischen Tag vor 30 Jahren - wenige Tage vor dem Mauerfall. «Die Menschen standen dicht an dicht, das war schon beeindruckend.» Es sei seine Möglichkeit gewesen, «kundzutun, dass man nicht so zufrieden ist», erinnert sich der Klavier- und Cembalobaumeister. Er sei in der DDR nie zur Wahl gegangen, sagt der frühere Ost-Berliner der Deutschen Presse-Agentur.

Schon seit dem frühen Morgen ist die gesamte Innenstadt in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik mit Demonstranten gefüllt. Der Verkehr ruht vollständig. Oppositionelle wie Marianne Birthler, der Schauspieler Jan Josef Liefers, die Schriftstellerin Christa Wolf sprechen zu den Massen.

Fast 30 Redner treten ans Mikrofon. Es geht um Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Der Machtanspruch der SED wird infrage gestellt. Der Berliner SED-Chef Günter Schabowski und der ehemalige Geheimdienstchef Markus Wolf werden lautstark ausgepfiffen. Ihre Versuche, sich als Reformer zu präsentieren, nehmen ihnen die Demonstranten nicht ab.

Nicht dabei ist Wolf Biermann, der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher. Obwohl von den Organisatoren eingeladen, wird ihm am Bahnhof Friedrichstraße die Einreise verweigert.

Am selben Tag versammeln sich in Magdeburg 40 000 Bürger. In Suhl protestieren 20 000 Bürger. Auch in Lauscha, Potsdam, Rostock, Plauen, Schwerin, Arnstadt, Altenburg und Dresden demonstrieren Zehntausende für den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen.

In ihrem Buch «Halbes Land Ganzes Land Ganzes Leben» erinnert sich Birthler, wie sie in der Nacht zuvor an ihrer Rede gearbeitet habe. Die damals 41-Jährige trat nach Gregor Gysi (der Pfiffe des Publikums kassierte) mit weichen Knien ans Mikrofon und begann mit den Worten: «Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben.»

Bei der Demo habe es mutige und witzige Plakate gegeben: «Keine Macht für niemand», «Rechtssicherheit statt Staatssicherheit» oder «Fahrräder fürs Politbüro». Beeindruckend sei es gewesen, dass immer mehr Menschen ihre Angst verloren und auf die Straße gingen, so Birthler, die von 2000 bis 2011 die Stasi-Unterlagen-Behörde leitete.

Die Initiative für den 4. November auf dem Alex ging vom «Neuen Forum» aus, wie Birthler schreibt. Es sei weder darum gegangen, die DDR abzuschaffen, noch darum, sie zu retten. «Es ging um ein besseres, freieres Leben.» Und: «Das Alte galt nicht mehr, und das Neue war noch nicht da.»

Auch beim damaligen Oppositionellen Tom Sello ist vieles noch präsent. Der heutige Berliner Beauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur meint, bei der Demonstration habe es viel Kreativität gegeben. «Das hat gezeigt, dass Revolution auch Spaß machen kann.»

Und es blieb friedlich. So wie in Leipzig. Dort hatte nur ein paar Wochen zuvor der «Aufruf der Leipziger Sechs» dazu beigetragen, dass es bei der großen Montagsdemo am 9. Oktober nicht zu Gewalt kam. Kurt Masur hatte den Aufruf für Besonnenheit mitverfasst - gerichtet an die Demonstranten und die Staatsmacht. «Ich war durchweg stolz auf Vati», sagt Sohn Michael heute. Mit dem Aufruf habe dieser einen Teppich für alle ausgelegt, hatte Masur dem «Tagesspiegel» gesagt.

Er wäre damals sehr gern zu der Demo in Leipzig gefahren, habe aber keine Zeit gehabt. Dann habe er das in Berlin nachgeholt, sagt Masur der dpa. Zu DDR-Zeiten Leiter der Klavierwerkstatt an der Staatsoper, übernahm Michael Masur 1991 diese nach der Privatisierung. Er repariert und stimmt die Instrumente des Hauses bis heute und denkt noch nicht ans Aufhören. Er betreue auch Privatkunden, mehrere Kirchen und das Staatsballett, so der 69-Jährige. Ein Nachfolger für die Werkstatt in Berlin-Kaulsdorf sei leider nicht in Sicht.

Nachdenklich reflektiert Masur junior über Vergangenheit und Gegenwart. «Die DDR möchten wir nicht zurückhaben», nickt er seiner Frau Evelyn zu. Zwar sei das heutige System in vielen Punkten sehr gut - so bei der Krankenversicherung - aber insgesamt nicht perfekt. «Die Schere zwischen arm und reich dürfte nicht so riesig sein.»

Er habe sich damals schon gefragt, ob er im Westen bleibe, so Masur. Es sei fast unwirklich gewesen, auf der anderen Seite des Brandenburger Tores zu stehen. Für ein halbes Jahr hatte der Dirigenten-Sohn bis zum 30. Juni 89 in West-Berlin beim Klavierbauer Steinway ein Praktikum machen können - über eine Einladung. Doch Masur hörte von Repressalien gegen die zurückgelassene Familie eines Bratschers, der bei einer West-Konzertreise wegblieb. Das habe er seiner Frau und den Kindern nicht antun wollen, sagt Michael Masur.

Er habe sich zu DDR-Zeiten nie «einen Kopf gemacht», dass ihm etwas passieren könne, obwohl er nicht bei den Pionieren war, nicht zur Jugendweihe ging und politische Witze erzähle, resümiert Masur. Ob er noch in Stasi-Akten einen Blick in die Vergangenheit wirft, wisse er nicht. «Die Entscheidung ist offen», sagt Michael Masur.

Inhalt: dpa - Deutsche Presse-Agentur GmbH

Bilder: Michael Masur steht am Alexanderplatz vor der Weltzeituhr und dem Berliner Fernsehturm. Foto: Christoph Soeder/dpa

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