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NS-Raubgut: «Die verschlungenen Wege der Bücher»

dpa / Monika Skolimowska
dpa / Monika Skolimowska

Es ist die Nadel im Heuhaufen. Auf der Suche nach NS-Raubgut sind in vergangenen vier Jahren rund 12 000 Bände aus dem Altbestand der Stadtbibliothek Bautzen durch die Hände von Robert Langer gegangen. Detektivisch haben er und seine Mitarbeiterin Blatt für Blatt seziert, um handschriftliche Eintragungen, weggekratzte Namensstempel oder Autografen zu identifizieren. Jeder Buchdeckel könnte ein Geheimnis haben. «Keiner konnte sich vorstellen, dass hier Bücher sind, die im Nationalsozialismus ihren Eigentümern zu Unrecht entzogen wurden», sagt der Herkunftsforscher. Ende April läuft das Projekt aus.

Ursprünglich war die Forschung der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (DZK) an der kommunalen Einrichtung nur als ein Test gedacht. Doch die Recherchen in den raumhohen Regalen mit Büchern, die bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ins Haus kamen, brachten spektakuläre Entdeckungen. Neben der Bibliothek der Familie Tietz, den einstigen jüdischen Inhabern der Hertie-Warenhauskette, gehört auch die Sammlung der Bankiersfamilie Helene und Carl Schlesinger dazu. Ihre Funde haben die Bautzener NS-Raubgutforscher in dieser Woche ihren Kollegen aus Deutschland und Österreich bei einer Tagung des Arbeitskreises Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken vorgestellt.

In der Gruppe mit 90 Mitgliedern forschen die meisten allerdings von Projekt zu Projekt. «Um die verschlungenen Wege der Bücher zu erkennen und die Eigentümer zu suchen, brauchen wir langfristige Stellen und Mittel. Wir sehen Bund und Kommunen in der Pflicht, um unsere Arbeit zu verstetigen», sagt Jana Kocourek. Das Mitglied der Kommission Provenienzforschung des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) und Mitarbeiterin der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) in Dresden untersucht seit 2009 projektweise den SLUB-Altbestand. «Die derzeitige Struktur hindert uns, kontinuierlich am Thema zu arbeiten.»

Nach dbv-Einschätzungen ist deutschlandweit erst ein kleiner Bruchteil von Bibliotheksaltbeständen auf NS-Raubgut untersucht worden. Bei einer Umfrage des Verbands zu Altbeständen meldeten 400 Bibliotheken ihr Interesse, zum Teil mit einer kleineren Anzahl Bücher, andere mit mehreren Tausend Exemplaren. In der Bautzener Stadtbibliothek sind zum Beispiel 80 000 Medieneinheiten in diesem Katalog verzeichnet. «Jede Stadt ab der Größe einer Kreisstadt hat einen Altbestand. Wir möchten jeden sensibilisieren, sich diese Bücher anzuschauen», sagt Langer.

Denn es gab zahlreiche Möglichkeiten, sich nach 1933 jüdischen Besitz anzueignen. Auf Auktionen ersteigerten Bibliotheken zu Spottpreisen Bestände aus dem Besitz jüdischer Bürger. In anderen Fällen lieferte die Gestapo beschlagnahmte Bücher von emigrierten oder deportierten Juden frei Haus. «Es ist eine Riesen-Bücherbewegung in Gang gekommen. Bei der Provenienzforschung geht es auch um die Wege der Bücher und wer die Verantwortlichen waren«, sagt Michaela Scheibe von der Staatsbibliothek Berlin und Vorsitzende der dbv-Kommission Provenienzforschung.

Die Bautzener NS-Raubgutforschenden haben genau diese Wege ihrer Bücher erforscht. Auf die Spur der Hertie-Bibliothek führte Langer ein Namensstempel «Hans Herrmann Tietz - Berlin-Grunewald - Königsallee 77» in einer kleinen «Hebräischen Lesefibel». Bis dahin galt die private Büchersammlung mit gut 4000 Bänden als Kriegsverlust. Über 500 Bücher aus der Familie der Kaufhaus-Dynastie stehen in den Regalen der Stadtbibliothek. Die Restitution läuft. Seine Forschungsergebnisse hat der promovierte Philosoph in der Publikation «Die Wege der geraubten Bücher» veröffentlicht.

Durch die Hertie-Recherchen kann Langer auch den «Fall Schlesinger» lösen. Jenen Namenszug findet er auch in obduzierten Büchern der Stadtbibliothek. Klarheit bringt das Brandenburgische Hauptarchiv. Dort lagern die historischen Akten des einstigen Oberfinanzpräsidiums Berlin-Brandenburg. In Händen des Wissenschaftlers landet ein dicker Ordner über die Demütigungen der jüdischen Bankiersfamilie Carl und Lena Schlesinger. 

Wie auch die Hertie-Bibliothek erwirbt die Reichstauschstelle zu einem Bruchteil des Werts die Bücher des Ehepaars, das 1942 mit seinen Kindern in die Vernichtungslager deportiert und ermordet wird. Die Tietz-Familie rettet sich nach der «Arisierung» des Unternehmens über Liechtenstein in die USA ins Exil. Das Raubgut aber wird am Ende des Krieges ins sächsische Baruth und später auf die Kegelbahn im benachbarten Drehsa ausgelagert. Beide Orte liegen nur wenige Kilometer entfernt von Bautzen.

Knapp 700 identifizierte Bücher sind das Ergebnis der vier Jahre Forschungstätigkeit in Bautzen. Deutschlandweit wurden in Bibliotheken über 30 000 Bücher als Raubgut festgestellt und an die Lost Art-Datenbank gemeldet. Langer wird jetzt seinen Schreibtisch räumen, aber bereits mehrere Bibliotheken haben ihn eingeladen, um über seine Detektivarbeit zu berichten. Denn immer mehr Einrichtungen wollen wissen, wieviel NS-Raubgut in ihren Regalen steht.  

Inhalt: dpa - Deutsche Presse-Agentur GmbH

Bilder: dpa / Monika Skolimowska