Am Sonntag um 20:15 Uhr geht das Zürcher Ermittlerduo Grandjean und Ott in die neunte Runde – mit einem Fall, der so bizarr wie beklemmend ist. Im neuen Tatort Rapunzel dreht sich alles um das Geschäft mit Echthaar, Machtstrukturen und persönliche Traumata. Regisseur Tobias Ineichen bringt den Stoff mit Gespür für surreale Momente und psychologische Tiefenschärfe ins Erste.
Die Tote in der Baumkrone
Der Fall beginnt mit einem Schockbild: In einer Baumkrone hängt die Leiche der jungen Vanessa Tomasi, die Hälfte ihres Haares abrasiert. Schnell wird klar, dass mehr dahintersteckt als ein eskalierter Clubbesuch. Die Spur führt Kommissarinnen Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) in eine Perückenmanufaktur – ein Ort, der für Isabelle auch zur Erinnerungsfalle wird. „Der Moment, in dem Isabelle den Perückenladen betritt, ist wie das Öffnen einer Tür zu einem alten, lange verschlossenen Raum“, sagt Schauspielerin Anna Pieri Zuercher über eine der Schlüsselszenen ihres Charakters. Für Kommissarin Grandjean ist das Thema Haare eng mit dem Tod ihrer Mutter verbunden – ein früher Verlust, der im Fall plötzlich emotional aufbricht.
Außergewöhnlicher Anblick am Tatort Kommissarinnen Tess Ott und Isabelle Grandjean und Staatsanwältin Anita Wegenast / Bild: SRF/Salvatore Vinci
Tatort Haarindustrie: Täter und Trauer
Im Zentrum der Ermittlungen steht das dubiose Netzwerk rund um Aurora Schneider (Stephanie Japp), deren Haaratelier offenbar mehr ist als eine Stilberatung. Der Unternehmer Rudolf von Landegg (Matthias Schoch) und seine Frau (Pascale Pfeuti) geraten ins Visier, ebenso Vanessas Lebensgefährtin Lynn (Elsa Langnäse), die mehr weiß, als sie zugibt. Parallel wird auch Tessas Privatleben aufgewühlt. Erstmals seit Jahren trifft sie auf ihre Mutter – vermittelt durch Isabelles Zureden. Schauspielerin Carol Schuler beschreibt das Verhältnis als „kompliziert und distanziert“, was vor allem daran liege, „dass die beiden in ihren Werten und Weltansichten grundsätzlich verschieden sind“.
Leidenschaft für Haarkunst: Aurora Schneider (Stephanie Japp, re.) frisiert eine junge Kundin / Bild: SRF/Valeriano Di Domenico
Auch die Dynamik zwischen den beiden Kommissarinnen steht im Fokus. Regisseur Tobias Ineichen beschreibt den Tatort als einen Film, in dem sich „je weiter die Handlung voranschreitet, der Fokus mehr auf der Psychologie der Figuren“ verlagert. Die Beziehung zwischen Isabelle und Tessa entwickelt sich weiter – nicht spektakulär, sondern leise und glaubwürdig. Als Tessa ihr Fahrrad verliert, leiht Isabelle ihr das Auto – ein banaler Akt, der in diesem Kontext Gewicht bekommt. „Dass sie Tessa ihr Auto leiht, ist ein bedeutsames Zeichen. Es zeigt, dass sie beginnt, Bindung zuzulassen“, sagt Anna Pieri Zuercher. Die Figuren seien „keine Klischees – sie sind widersprüchlich, verletzlich, eigenwillig.“
Haare als politisches Statement
Wie tief das Thema Haare tatsächlich reicht, zeigt sich nicht nur im Plot, sondern auch in der Haltung der Schauspielerinnen. Carol Schuler, die Tessa Ott spielt, erklärt: „Haare sind politisch, weil sie mehr als nur Ästhetik berühren – sie spiegeln Machtverhältnisse wider.“ Sie erinnert an Solidaritätsaktionen mit iranischen Frauen oder ihre eigenen rebellischen Haarfarben in der Jugend – „ein Ausdruck von Individualität und Widerstand“. Auch Regisseur Tobias Ineichen hebt die Vielschichtigkeit des Stoffs hervor: „Mich interessiert seit jeher die Schnittstelle zwischen dem, was wir gemeinhin als das ‚Gute‘ oder als das ‚Böse‘ erachten.“ Der Tatort Rapunzel nutzt genau diesen Raum – zwischen Märchen, Moral und menschlichem Abgrund. Wer am Sonntagabend einschaltet, bekommt kein Krimipuzzle von der Stange, sondern ein fein inszeniertes Drama mit Haltung.
Der Tatort Rapunzel wird am Sonntag, 15. Juni 2025, um 20:15 Uhr im Ersten ausgestrahlt. Wiederholungen folgen am Sonntag um 21:45 Uhr und am Montag um 03:35 Uhr auf ONE, sowie am Dienstag, 17. Juni, um 00:40 Uhr im Ersten. Die Folge ist vorab in der ARD Mediathek verfügbar.